Große und kleine Fluchten: Matthias Oses Zeichnungen zu einem Wagnerschen Lebensthema
Ich weiß nicht, ob sich Matthias Ose als Geflüchteter oder Flüchtling bezeichnen würde, wenn man ihn auf seinen Auszug aus seiner unmittelbaren Heimat Meiningen anspräche. Dass er auch der Liebe wegen hier blieb, mag ihn mit dem Meister verbinden, der nicht nur aus Leibes-, gelegentlich auch aus Liebesgründen – was meist, wenn auch nicht immer in Wagners Fall, aufs Gleiche hinauszugehen pflegt – sein eigener Flucht-, pardon: sein eigener Gefluchthelfer war. Kleine Fluchten – so hieß vor Jahrzehnten ein schöner Schweizer Film – Sie erinnern sich: die Schweiz war der wichtigste Fluchtpunkt aller Mutterländer, die Wagner je an ihre Brüste legten. Bekanntlich war der kleine Herr Wagner (amtlicher Passeintrag: 1 Meter 65 stehende Länge) ein Riese auch in Fluchtangelegenheiten. Unter hochdramatischen oder fantastisch anmutenden Aktionen machte er es nicht. Wenn ihm nur ein einziges Mal eine seiner erstaunlich vielen Fluchten missglückt wären: wir stünden heute alle nicht hier in Bayreuth, um festzustellen, dass man es anderswo ja gar nicht aushalten kann. Wissen Sie übrigens, welche beiden Bayreuther Orte der glänzende Schriftsteller und Satiriker Herbert Rosendorfer in seinem Buch Bayreuth für Anfänger als schönste Bayreuther Orte benennt? Es sind, womit wirbeim Thema bleiben, zwei Fluchtorte: die Autobahnausfahrt Nord und die Autobahnausfahrt Süd.
Kleine Fluchten und große Fluchten also. Hier die Flucht in die Schweiz, die ihm der liebe Gott ermöglicht hat, denn es war ein wahres Wunder, dass Wagner 1. durch die feindlichen Linien der preußisch-sächsischen Reaktion kam, als es darum ging, in den Wirren der Revolution buchstäblich den Hals zu retten. Um Haaresbreite wäre er verhaftet, vielleicht sogar hingerichtet worden, und nur der Fluchtgott machte die Häscher blind für den Mann, der – als wollte er das Schicksal herausfordern – in jenen Ort zurückgekehrt war, in dem man schon seine Kompagnons inhaftiert hatte. 2. ist es ein Wunder, dass der Heilige Franziskus, also Franz Liszt, der Schirmherr aller guten und weniger guten Musiker seiner Zeit, dem Freund ein paar Taler zusteckte und ihn vor allem mit einem Pass versorgte. So konnte Wagner als no-name in die Schweiz flüchten, um Nebenwerke wie den Ring und den Tristan zu schreiben, was ihm freilich nur dank eines sog. Illegalen Übertritts gelang; der Grenzwächter mag zwei Augen zugedrückt haben, wofür ihm die musikliebende Welt noch posthum einen Orden verleihen sollte. Hat sie je daran gedacht?
Nebenbei: die Schweiz war um 1850 der europäische Fluchtort für die gescheiterten Revolutionäre aller Länder wie noch später für die russischen Kommunisten. Nein, das Boot war noch nicht voll, sondern hatte noch genügend Platz, um unsichere Kantonisten wie Richard Wagner einzuladen. Später flüchtete er dann zurück an die Brüste der Mutter Schweiz: als es der inzwischen amnestierte Meister wieder einmal zu wild trieb, musste selbst der Bayernkönig einsehen, dass der Revoluzzer, der auch in München das Revoluzzen nicht lassen konnte, kein Mann für eine stete Residenzpflicht war. Wagner wurde äußerst höflich, aber extrem deutlich aufgefordert, sich bitteschön aus München wegzubegeben. Dies war noch keine Flucht – höchstens eine passive, an deren Zustandekommen er selbst fleißig beteiligt war. Aber er flüchtete dann doch wieder nach Süden: in die Schweiz, von wo aus er schon einige Jahre zuvor eine andere, doch nicht weniger typische Flucht angetreten hatte: die Flucht aus unheilbaren amourösen Verstrickungen.
Es kracht auf dem Grünen Hügel bei Mathilde und Minna, Otto und Richard, als der Komponist, der sich gerade anschickt, sein Verhältnis zur geliebten Muse in einem metaphysischen wie durchaus physischen Drama von äußerster Prägnanz zu überhöhen. Er flieht aus der biederen Schweiz nach Venedig, wo er weiter werkelt an seinem temporären Weltabschiedswerk. In Venedig, diesem eindeutigen Fluchtort seiner gekränkten Seele (und seiner durchlöcherten Brieftasche), schreibt er eine seiner zauberhaftesten Instrumentationen: die Orchesterfassung des Liebesnachttraum- und Enttäuschungs- und Tagesgesangs des zweiten Akts. Die These sei gewagt: Wagner benötigte diese Flucht, ja: er provozierte sie geradezu, um am einzig möglichen Ort das momentane Kunstwerk so und nicht anders schaffen zu können – denn der zwischen Stein und Wasser angesiedelte Traumort Venedig ist in dieser vergleichslosen Instrumentation elementar enthalten. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie der zweite Tristan-Akt klingen würde, hätte er ihn in Bitterfeld instrumentiert; schon in Luzern hätte das Werk niemals diese Gestalt annehmen können. Auch die extremen Fluchtwanderungen in die Berglandschaften der Schweiz – immer hinaus aus der „Civilisation“ der stickigen Städte – dienten auchdem künstlerischen Zweck: mit Siegfrieds mirakulösem Aufstieg auf den Walkürefelsen im geistigen Gepäck. Selige Öde auf wonniger Höh…
Nichts ist demnach so schlecht, dass es nicht für irgend etwas gut ist. Wagner hat seine Fluchten meist als kreative Stimulanz aufgefasst – selbst dann, wenn er, wie in La Spezia, den Fischen fleißig zu essen gab, doch imaginierte er hier eine erste Version des gleichermaßen vergleichslosen Rheingold-Vorspiels. Nach Paris flüchtete er, weil er es im spießigen Deutschland mit seinen schmierigen Kleintheatern nicht mehr aushielt – in Paris lernte er fürs Leben: Positives, aber auch, um es in seiner Diktion zu sagen, „Fürchterliches“, doch gerade das „Fürchterliche“, der leere Pomp der Oper, die Geistlosigkeit der dortigen Ästhetik (wie er sie begriff), provozierte ihn zu genialen Gegenmodellen. Keine Flucht ohne Federtäschlein, keine Vertreibung aus dem Paradies ohne Partiturpapier. Wagner floh oft aus Höllen, zumal aus klimatischen, ja: Matthias Ose bezeichnet Wagner geradezu als „Klimaflüchtling“: denn die Winterreisen nach Italien dienten natürlich auch dem Zweck, dem Bayreuther Wetter zu entfliehen. Der Meister hat es – dank der Tagebuchaufzeichnungen seiner geliebten Gattin wurde das kostbare Wort für die Nachwelt bewahrt – schlicht und einfach mit einem einfachen Begriff bedacht, der mit den beliebten drei Buchstaben S-C-H beginnt.
Nach Italien konnte er, samt Familie und geordnetem Gepäckwagen, mit dem Kursbuch ausgerüstet fliehen, andere Fluchtgedanken blieben Träume. Es waren nicht die schlechtesten. Sich vorzustellen, wie Wagner denn doch noch mit dem berühmt-berüchtigten Blumenmädchen Carrie Pringle in die Vereinigten Staaten von Amerika geflohen wäre, ist einfach köstlich, auch wenn ich vermute, dass 20 Jahren härtester Carrie-Pringle-Forschung völlig spurlos an Matthias Ose vorbeigegangen sind; ich stelle mir den Meister als Dirigent von Monsterkonzerten vor: so wie Johann Strauss seinerzeit mit Hilfe mehrerer Subdirigenten Tausende von Musikern dirigierte. Der Walkürenritt für 400 Streicher, 100 Flöten, 200 Hörner, 80 Bassposaunen, 60 Schlagzeuger etc.: der Gedanke hat etwas. Ich stelle mir vor allem vor, wie Wagner seinerseits vor diesem Graus geflohen wäre: so wie Siegmund vor Hundings Mannen, so wie der Fliehende Holländer vor dem Fluch, Tannhäuser vor Venus, Lohengrin vor Elsa, Wotan vor Fricka (wo in Bergen du dich brirgst..), der Waldvogel vor Wotans Raben, Tristan vor dem Liebesglück, Evchen vor Beckmesser und Parsifal vor Kundry… Oder: die Flucht mit einer neuen Geliebten, Jessie Laussot, in den Orient: nach Griechenland, in die Türkei.
Stichwort Imagination: Matthias Ose hat vielen dieser Ideen nun endlich bildlichen Ausdruck verliehen. Er hat das Thema „Flucht“ in typisch osescher Weise behandelt, ja: er hat seinen angewandten und hochentwickelten Oseismus wieder in einer Weise spielen lassen, die uns davon überzeugt, dass eine Biographie recht eigentlich – wie der Wagnerianer Thomas Mann, der indirekt in einem unserer Blätter versteckt wurde, gesagt hätte – nur aus Imaginationen konstruiert wird: aus eigenen und aus fremden. Wir wissen, dass viele Details aus Wagners Autobiographie Mein Leben wenn nicht erfunden, so doch – nun ja: vom Verfasser stark manipuliert wurden. Dem Memoirenschreiber war nicht zu trauen, soweit es Daten und Interpretationen betraf – aber das Ergebnis war das Kunstwerk eines wiederum vergleichslosen Memoirenwerks. Und Hand aufs Herz: ist die orientalische Flucht, die Ose hier samt fliegendem Teppich ins Bild gesetzt hat, nicht schöner als der schnöde Ablauf der lächerlichen Laussot-Liebesgeschichte? Und ist nicht die Ansicht des kleinen Mannes, der vor der mystifizierten Kirche von Gelmeroda steht, die erst durch Lionel Feinigers Ansichten ihren mythischen Charakter verliehen bekam, entzückender als das Wissen, dass Wagner mit der Kutsche am schlichten Kirchlein vorbeigefahren ist?
Ose bezieht – das erkennt, wie Brahms gesagt hätte, jeder Esel – nicht die wenigsten seiner Bildmotive aus klassischen wie bekannten Vorlagen, indem er sie pointiert: aus Filmbildern, Karikaturen, Fotos, Gestalten der Modernen Mythologie. Robin Hood, der Geächtete (oft im Fluchtzustand) trifft den Tramp (der bekanntlich oft vor den Polizisten flüchtet). Hokusais Welle umfängt das Schiff mit den Eheleuten, den Wirtschaftsflüchtlingen aus dem Osten Europas. Der Neufundländer Robber flüchtet wiederum vor Wagner, der junge Mann trifft einen berühmten und beeindruckenden polnischen General; wir schreiben das Jahr 1832, Tausende von geflüchteten Polen gelangen nach Sachsen, wo sie als Freunde und Opfer kriegerischer und undemokratischer Zustände willkommen geheißen werden. Es bilden sich Komitees zur Unterstützung der polnischen Revolutionäre, Wagner schreibt später, ihnen zu Ehren, eine Polonia-Ouvertüre.
Kein Wunder aber, dass sich Wagner im Exil oft alleine fühlte: abgeschnitten von den deutschen Freunden, von den deutschen Verhältnissen, von den Zuständen, für die er seine gewaltigen Werke konzipierte – ein Mann, getrennt von seinem Vaterland, das er nicht immer liebte, das er jedoch höher schätzte als das Mutterland der Schweiz mit ihrem großen, weichen Busen, der Platz genug bot, um ihm und anderen Genies für wichtige Jahre eine freundliche Zuflucht zu bieten. Nein, das Exil, das einen im glücklichsten Falle nach der Flucht empfängt, kann gut sein. Es bleibt doch ein Fluchtort als Passage in irgendein Zurück. Wagner hat es oft geschrieben: wie einsam er sich doch fühlt, gestrandet, verlassen, elend. „Elend“, das heißt – der Germanist weiß das – das heißt „fern der Heimat“. Dass Wagner fern der Heimat die wichtigsten Werke seines Lebens schrieb und einige der wichtigsten Frauen (und Männer) seines ruhelosen, eigentlich immer flüchtigen Lebens im Exil traf, muss als großes Glück betrachtet werden. Dass er zwischendurch sich einsam fühlte, weil trotzdem alles schlechter schien als eine Heimat, in der man, wie Heiner Müller einmal gesagt hat, seine Schulden hat: auch von diesem Widerspruch erzählen uns die Blätter Matthias Oses, die er einem großen Geist gewidmet hat, der noch der Flucht das Beste abgewann: im Werk wie im Traum. Sagen wir so: diese Ansichten, eine Biographie Hoch zwei, sind selbst Produkte eines Geistes, der die Widersprüche und Schatten des Wagnerschen Lebens mit einem unvergleichlichen Humor zu zeichnen pflegt.
Letzter Hinweis: einige der Blätter dieser Ausstellung gehören nicht zum Thema „Flucht“, sondern sind einfach „nur“ Porträts. Das Neueste heißt „Cosima auf dem Gral“. Als ich es sah, dachte ich unwillkürlich: „Vor dieser Tante wäre ich auch geflüchtet“.
Frank Piontek, 11.7. 2016